Praxiswissen

Zwei wichtige Entscheide zum Anklagegrundsatz

Reto Ineichen – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Nach Artikel 9 Absatz 1 StPO umschreibt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Sie hat die Delikte in ihrem Sachverhalt genügend zu konkretisieren und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion).

Gemäss Artikel 325 Absatz 1 litera f StPO bezeichnet die Anklageschrift möglichst kurz die Taten und die Tatausführung. Das Gericht ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt (lmmutabilitätsprinzip), nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden. Die Beweiswürdigung obliegt dem Gericht. Die Anklageschrift hat den Sachverhalt nur zu behaupten, nicht aber zu beweisen. Demnach gehören in die Anklageschrift weder die Nennung von Beweisen noch Aktenverweise.

Aufgrund dieser Überlegungen sah das Bundesgericht den Anklagegrundsatz nicht verletzt, da bei Betäubungsmitteldelikten nicht verlangt werden könne, dass die Anklageschrift sich im Detail zum Inhalt einzelner Gespräche äussere bzw. diese wörtlich wiedergäbe (BGer 6B_424/2021 vom 26.1.2023, E. 1.2 und 1.4 mit Verweisen).

Das Kantonsgericht Luzern hatte eine Anklage wegen Widerhandlungen gegen das Tierschutzgesetz zu beurteilen, die weitestgehend im Anschluss an die Tatumschreibung der jeweiligen Vorwürfe zahlreiche Belegstellen bzw. Hinweise auf die Untersuchungsakten anführte.

Das Gericht hielt fest, dass die Verwendung von Belegstellen sachlich und mit der nötigen Zurückhaltung zu erfolgen habe: Verweis auf eine Gesamtheit von Akten, wie der Verweis auf ein oder mehrere Aktenregister oder der Verweis auf ein Speichermedium als solches. Zulässig seien zudem Hinweise auf einzelne Aktenstücke, die im Zusammenhang mit in der Anklage zitierten Texten stünden wie beispielsweise Hinweise auf eine Rechnung, einen Mietvertrag oder ein Arztzeugnis. Hingegen ist es nach dem Kantonsgericht Luzern unzulässig, bei einer Gesamtheit von (zusammenhängenden) Akten lediglich auf einzelne, spezifische Aktenstücke hinzuweisen bzw. diese hervorzuheben, wie zum Beispiel die Nennung einzelner Video- oder Fotodateien auf einem Speichermedium.

Das Gericht folgerte, dass im konkreten Fall die latente Gefahr der Voreingenommenheit des Gerichts bzw. der Lenkung des Gerichts bestand, was sich in den in der Anklage und im Urteil der Vorinstanz teilweise identischen Formulierungen bzw. Textpassagen zeige, und wies die Anklage zur Berichtigung direkt an die Staatsanwaltschaft zurück (Kantonsgericht Luzern, Beschluss 4M 22 13/14 vom 16.1.2023).

Für eine gute Verteidigung bedeutet dies, dass bei zu detaillierten Anklagen umgehend der Antrag auf Rückweisung nach Art. 329 StPO zu stellen ist. Wird dieser abgelehnt, sollte man umgehend eine Schutzschrift der Verteidigung einreichen – also eine eigene Stellungnahme zu den Vorwürfen.