Praxiswissen

Aufhebung stationärer Massnahmen aufgrund von Aussichtslosigkeit

Eveline Gloor – Rechtsanwältin und Fachanwältin SAV Strafrecht

Wenn die Durch- oder Fortführung einer stationären Massnahme aussichtslos erscheint, wird sie aufgehoben (Artikel 62c Absatz 1 litera a StGB) – mit anderen Worten dann, wenn die Rückfallgefahr durch die Massnahme nicht reduziert werden kann.

Wird eine stationäre Massnahme aufgehoben, befindet die Vollzugsbehörde selbst über die Aufhebung. Über die Rechtsfolgen dieser Aufhebung entscheidet dann das Gericht mit selbständigem nachträglichem Entscheid nach Artikel 363 ff. StPO.

Die Vollzugsbehörde stellt entsprechend Antrag. Dieser wird dann in der Regel von der Staatsanwaltschaft vor Gericht vertreten. Für das nachträglich selbständige Verfahren ist das erstinstanzliche Gericht zuständig, das ursprünglich über den Fall entschieden und die Massnahme angeordnet hat. Der Entscheid wird, meist in einem schriftlichen Verfahren, in Form eines Beschlusses erlassen, der heute mit Beschwerde anfechtbar ist1 (nach revidierter StPO ab Januar 2024, aber mit Berufung gemäss Artikel 365 Absatz 2 StPO).

Die möglichen Wege ergeben sich aus Artikel 62c Absatz 2 StGB: Ist der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug kürzer als die aufgeschobene Freiheitsstrafe, ist zu prüfen, ob die Reststrafe vollzogen oder aufgeschoben werden kann. Artikel 62c Absatz 2 StGB verweist hierzu auf Artikel 86 StGB (Voraussetzungen der bedingten Entlassung) und Artikel 42 StGB (bedingte Freiheitsstrafe). Es ist also auch hier schlussendlich die Legalprognose massgebend.

Es ist gemäss Rechtsprechung eine sogenannte Differenzialprognose vorzunehmen.2 Das heisst, es ist die Legalprognose im Falle der bedingten Entlassung und im Falle der Vollverbüssung der Reststrafe gegenüberzustellen. An die Legalprognose sollen aber keine überspitzten Anforderungen gestellt werden, da ansonsten der Aufschub der Reststrafe kaum je möglich wäre3 – schliesslich wäre die Massnahme gescheitert und das Rückfallrisiko bestünde (nach Ansicht der Vollzugsbehörde) weiterhin.

Anstelle des Strafvollzugs kann das Gericht andere Massnahmen anordnen, wenn zu erwarten ist, dadurch lasse sich die Gefahr weiterer mit dem Zustand des Betroffenen in Zusammenhang stehender Delikte verhindern (inklusive Anordnung einer Verwahrung bei einer Katalogtat nach Artikel 64 Absatz 1 StGB). Oder es kann die Erwachsenenschutzbehörde informieren, wenn eine Massnahme des Erwachsenenschutzes angezeigt ist.

Die betroffene Person ist bereits im Massnahmenverfahren, spätestens aber in den gerichtlichen Nachverfahren auf eine engagierte und erfahrene Rechtsvertretung angewiesen, um sich im Dickicht des Massnahmenrechts und der Rechtsfolgen der Entscheide der Vollzugsbehörden zurechtzufinden.


1 Gemäss BGE 141 IV 396.
2 Vgl. BGer 6B_215/2015 vom 7.4.2015.
3 Stefan Heimgartner, in: Andreas Donatsch (Hrsg.), StGB/JStG Kommentar, mit weiteren Erlassen und Kommentar zu den Strafbestimmungen des SVG, BetmG und AuG/AIG Kommentar StGB/JStG, 21. Aufl., Zürich 2022, Art. 62c, N 3.