Praxiswissen

Verteidigungsstrategie und strategische Prozessführung

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Strategische Prozesse sind Gerichtsverfahren, die gezielt eingesetzt werden, um strukturelle Grundrechtsverletzungen zu thematisieren. Im angelsächsischen Raum wird diese Praxis seit langem diskutiert. Im deutschsprachigen Raum werden ebenfalls seit Jahrzehnten solche Prozesse geführt; indessen wurde dazu lange keine Debatte geführt. Dies hat sich geändert: In Deutschland ist 2019 ein erster Sammelband erschienen: Graser / Helmrich, Strategic Litigation.

Die NGOs Humanrights.ch und Inclusion Handicap führten unlängst mit dem Lehrstuhl Schefer der Universität Basel eine Tagung zur Thematik durch. Humanrights.ch hat zudem eine Anlaufstelle gegründet, die strategische Fälle dokumentiert und analysiert, um best practices zu fördern.

Ein Blick zurück zeigt die Bedeutung solcher strategischer Prozessführungen avant la lettre für die Entwicklung der Strafverteidigung als Berufsstand und deren Strategien auch ausserhalb strategischer Prozessführungen im engeren Sinne.

Exemplarisch: Die professionalisierte Strafverteidigung im deutschsprachigen Raum entstand in der Weimarer Republik – in der Verteidigung linker politischer Beschuldigter gegen eine willkürliche Strafjustiz. Bei der Verteidigung von Freiheitskämpfern im Algerienkrieg entwickelte Vergès seine gegenhegemoniale Strategie Konfrontation statt Anpassung; er ebnete damit das Terrain für heute gängige Konfliktverteidigungen.

Und es ist kein Zufall, dass als Folge der sogenannten Pruntruter Terroristenprozesse in BGE 106 Ia 100 erstmals in der Schweiz höchstrichterlich die Rolle der Anwältin in Strafsachen als einseitige Verfechterin von Parteiinteressen klargestellt wurde. Erst seit dem Anfang der Achtzigerjahre ist überdies beispielsweise auch der anwaltliche Rat, die Aussage zu verweigern üblich. Die derzeit wichtigsten strategischen strafrechtlichen Prozessführungen finden wider das Präventionsstrafrecht statt. Sie werden ebenfalls die künftigen Strategien auch in anderen Strafverfahren prägen.

Daher: Will die Strafverteidigung als Profession sich nicht in der zwergenhaften Rührigkeit eines beflissenen Dienstes nach Vorschrift erschöpfen, kommt sie nicht um strategische Prozessführungen herum. Ein technisch-handwerklicher Zugang ist zwar durchaus notwendig, aber nicht hinreichend für die kreative Strafverteidigungspraxis out of the box. Denn die Geburten und Wiedergeburten zentraler verteidigungsstrategischer Bausteine entspringen meist dem Geiste strategischer Prozessführungen.