Die Einleitung eines Vorverfahrens setzt einen Tatverdacht (Art. 299 Abs. 2 StPO), die Eröffnung einer Strafuntersuchung grundsätzlich einen hinreichenden Tatverdacht (Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO) und die polizeiliche Vorführung einer beschuldigten Person schliesslich einen dringenden Tatverdacht (Art. 207 Abs. 1 lit. d StPO) voraus.
Die Unterscheidung zwischen Tatverdacht, hinreichendem Tatverdacht und dringendem Tatverdacht ist legislativer Wille. Sie ist sinnvoll: Je stärker der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, desto stärker muss der Tatverdacht sein. Die Unterscheidung dieser Verdachtsformen ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ihr erstens in der Praxis eine Bedeutung zukommt und sie zweitens justiziabel ist. Sonst verkommt sie zur leeren Worthülse. Nach meiner Erfahrung wird der Unterscheidung dieser Verdachtsformen bei #MeToo-Delikten zu wenig Bedeutung beigemessen.
Steht der Vorwurf eines Sexualdelikts im Raum, ist es nachgerade zur Praxis geworden, dass die beschuldigte Person polizeilich vorgeführt wird und regelmässig Untersuchungshaft beantragt und angeordnet wird. Die Zuführung und die Untersuchungshaft werden mit Kollusionsgefahr mit dem Opfer begründet. Die beschuldigte Person und die Verteidigung können sich gegen die apodiktische Kollusionsgefahr nicht wehren, da das Zwangsmassnahmengericht keine weiteren Beweise abnimmt – beispielsweise Opfer und beschuldigte Person konfrontiert – und in der Beweiswürdigung äusserste Zurückhaltung an den Tag legt. Die Anforderungen an die Qualität der Belastung sind niedrig. Regelmässig reicht eine Aussage des Opfers gegenüber den Strafverfolgungsbehörden – wobei in diesem Stadium die beschuldigte Person an der Einvernahme nicht teilnimmt.
So betrachtet, reicht ein Beweismittel – die wahre oder falsche Aussage des Opfers –, um eo ipso und gleichzeitig alle drei Verdachtsformen zu begründen. Dieser Automatismus ist gesetzeswidrig, ungerecht und ökonomisch ineffizient, weil er Entschädigungsforderungen produziert. Zudem öffnet er dem Missbrauch Tür und Tor und schadet letztlich auf längere Sicht den Opfern. Meiner Erfahrung nach wird im Vorverfahren beim Verdacht auf Sexualdelikte im Vergleich zu anderen Delikten mit ungleichen Ellen gemessen. Eine einzige belastende Aussage als ausschliessliche Begründung eines Tatverdachts, eines hinreichenden Tatverdachts und eines dringenden Tatverdachts ist bei anderen Delikten – beispielsweise, aber nicht nur, bei Wirtschaftsdelikten – selten. Man wird des Weiteren den Verdacht nicht los, dass die polizeiliche Zuführung und die Untersuchungshaft bisweilen zynische Mittel zum Zweck sind.
Die polizeiliche Zuführung dient der Schocktherapie zur besseren Einvernahme, und die Untersuchungshaft verkommt nicht selten zur Beugehaft. Die vorschnelle polizeiliche Zuführung und Anordnung der Untersuchungshaft führt als Nebenprodukt dazu, dass insbesondere bei einer sich abzeichnenden Einstellung oder einem Freispruch versucht wird, mittels systematischer Suche nach Zufallsfunden – was contra legem ist – die beschuldigte Person trotzdem noch zu bestrafen.