Praxiswissen

Sexualdelikte und Tatverdacht

Andrea Taormina – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Die Einleitung eines Vorverfah­rens setzt einen Tatverdacht (Art. 299 Abs. 2 StPO), die Eröffnung einer Strafunter­suchung grundsätzlich einen hinreichenden Tatverdacht (Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO) und die polizeiliche Vorführung einer beschuldigten Person schliesslich einen dringen­den Tatverdacht (Art. 207 Abs. 1 lit. d StPO) voraus.

Die Unterscheidung zwischen Tatverdacht, hinreichendem Tatverdacht und dringendem Tatverdacht ist legislativer Wille. Sie ist sinnvoll: Je stärker der Eingriff in die Persönlich­keitsrechte, desto stärker muss der Tatverdacht sein. Die Unterscheidung dieser Verdachtsformen ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ihr erstens in der Praxis eine Bedeutung zukommt und sie zweitens justiziabel ist. Sonst verkommt sie zur leeren Worthülse. Nach meiner Erfahrung wird der Unterscheidung die­ser Verdachtsformen bei #MeToo-Delikten zu wenig Bedeutung beigemessen.

Steht der Vorwurf eines Sexu­aldelikts im Raum, ist es nach­gerade zur Praxis geworden, dass die beschuldigte Person polizeilich vorgeführt wird und regelmässig Untersuchungs­haft beantragt und angeordnet wird. Die Zuführung und die Untersuchungshaft werden mit Kollusionsgefahr mit dem Opfer begründet. Die beschul­digte Person und die Verteidi­gung können sich gegen die apodiktische Kollusionsgefahr nicht wehren, da das Zwangsmassnahmengericht keine weiteren Beweise abnimmt – beispielsweise Opfer und beschuldigte Person kon­frontiert – und in der Beweis­würdigung äusserste Zurück­haltung an den Tag legt. Die Anforderungen an die Qualität der Belastung sind niedrig. Regelmässig reicht eine Aus­sage des Opfers gegenüber den Strafverfolgungsbehör­den – wobei in diesem Stadium die beschuldigte Person an der Einvernahme nicht teilnimmt.

So betrachtet, reicht ein Beweismittel – die wahre oder falsche Aussage des Opfers –, um eo ipso und gleichzeitig alle drei Verdachtsformen zu be­gründen. Dieser Automatismus ist gesetzeswidrig, ungerecht und ökonomisch ineffizient, weil er Entschädigungsfor­derungen produziert. Zudem öffnet er dem Missbrauch Tür und Tor und schadet letztlich auf längere Sicht den Opfern. Meiner Erfahrung nach wird im Vorverfahren beim Verdacht auf Sexualdelikte im Vergleich zu anderen Delikten mit un­gleichen Ellen gemessen. Eine einzige belastende Aussage als ausschliessliche Begründung eines Tatverdachts, eines hin­reichenden Tatverdachts und eines dringenden Tatverdachts ist bei anderen Delikten – bei­spielsweise, aber nicht nur, bei Wirtschaftsdelikten – selten.  Man wird des Weiteren den Ver­dacht nicht los, dass die polizeiliche Zuführung und die Un­tersuchungshaft bisweilen zy­nische Mittel zum Zweck sind.

Die polizeiliche Zuführung dient der Schocktherapie zur bes­seren Einvernahme, und die Untersuchungshaft verkommt nicht selten zur Beugehaft. Die vorschnelle polizeiliche Zuführung und Anordnung der Untersuchungshaft führt als Nebenprodukt dazu, dass insbesondere bei einer sich ab­zeichnenden Einstellung oder einem Freispruch versucht wird, mittels systematischer Suche nach Zufallsfunden – was contra legem ist – die beschuldigte Person trotzdem noch zu bestrafen.