Praxiswissen

Informationsdefizite der beschuldigten Person

Denise Wüst – Rechtsanwältin und Fachanwältin SAV Strafrecht

Zu Beginn einer Strafuntersuchung ist für die beschuldigte Person oft nicht klar, was ihr die Strafverfolgungsbehörde konkret vorwirft. Der Tatvorwurf wird in sachlicher und zeitlicher Hinsicht in der Regel noch nicht exakt umschrieben und Akten werden aus untersuchungstaktischen Gründen häufig zurückbehalten. Während die Staatsanwaltschaft vor allem in der Anfangsphase der Ermittlungen oft Zwangsmassnahmen einsetzt, ist die Position der beschuldigten Person in diesem Stadium durch dieses Informationsdefizit geschwächt. Für die beschuldigte Person ist es daher bedeutsam, dass die Strafverfolgungsbehörden zu Beginn der ersten Einvernahme den Gegenstand der Strafuntersuchung darlegen (vgl. Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO). Das Bundesgericht vertritt in diesem Zusammenhang jedoch die Auffassung, im frühen Verfahrensstadium der ersten Einvernahme sei eine gewisse Verallgemeinerung im Hinblick auf eine erfolgreiche Durchführung der Strafuntersuchung zulässig (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_646/2017 vom 1. Mai 2018, Erw. 5.3).

Spätestens in der Anklageschrift verlangt das Gesetz allerdings eine exakte Umschreibung des dem Strafverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts (Akkusationsprinzip, Art. 9 StPO). Das Akkusationsprinzip erfüllt unter anderem eine Informationsfunktion: Wenn der Tatvorhalt in der ersten Einvernahme noch allgemein gehalten sein darf, so muss dieser spätestens in der Anklageschrift genau umschrieben werden. Ausserdem fixiert die Anklageschrift das Verfahrens- und Urteilsthema (sog. Immutabilitätsprinzip, Art. 350 Abs. 1 StPO). Sind allfällige Vorfragen behandelt, kann die Anklage nicht mehr zurückgezogen und unter Vorbehalt von Art. 333 StPO nicht mehr geändert werden (Art. 340 Abs. 1 lit. b StPO).

Was gilt aber, wenn sich während der Gerichtsverhandlung – nach Behandlung der Vorfragen – herausstellt, dass der Sachverhalt in der Anklageschrift unvollständig umschrieben oder in dieser Form nicht nachgewiesen ist? Wird das Akkusationsprinzip ernst genommen, muss dieser Umstand aus Sicht der Autoren jedenfalls dann zum Freispruch führen, wenn weder das gerichtliche Beweisverfahren neue Erkenntnisse bringt noch ein Anwendungsfall von Art. 333 StPO vorliegt. Die Gerichte bekunden zuweilen aber Mühe mit diesem Ergebnis und weisen Anklageschriften gestützt auf Art. 329 Abs. 2 StPO mitunter auch nach Klärung der Vorfragen an die Staatsanwaltschaft zurück, verbunden mit der Einladung zur Änderung des Anklagesachverhalts. Der Staatsanwaltschaft wird im Ergebnis die Gelegenheit eingeräumt, allfällige Mängel zu korrigieren und am Anklagesachverhalt zu feilen, bis eine Verurteilung der beschuldigten Person vielleicht doch noch erfolgen kann. Damit wird das Immutabilitätsprinzip und somit auch die Waffengleichheit aufgehoben und die beschuldigte Person wird wieder der belastenden Ungewissheit des Vorverfahrens ausgesetzt. Der Anspruch der beschuldigten Person, spätestens mit der Anklageschrift über den genauen Vorwurf transparent, vollständig und – abgesehen von den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen – abschliessend orientiert zu werden, ist rechtsstaatlich bedeutsam. Es ist daher wichtig, dass sich die Verteidigung für die Wahrung des Akkusations- und des Immutabiliätsprinzips einsetzt, damit spätestens vor Gericht kein Informationsdefizit mehr besteht und die Waffengleichheit gewährleistet ist.