Praxiswissen

Interessieren sich Strafverteidiger nur für die Beschuldigten?

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Als Strafverteidiger wird man oft gefragt, wie man es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, sich für die Rechte der Beschuldigten einzusetzen, ohne an die Opfer auch nur zu denken. Die Antwort ist einfach. Sie steht im Gesetz: «Die Verteidigung ist […] allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet» (Art. 128 StPO). Opfer und ihre Interessen haben darin keinen Platz. Es gibt sie nicht und darf sie auch nicht geben.

Oder sind die Opferinteressen vielleicht Teil der «Interessen der beschuldigten Person»? Wer definiert, was im Interesse der beschuldigten Person ist? Die Antwort kann nur eine sein: die beschuldigte Person. Mindestens bis feststeht, dass sie nicht urteilsfähig ist, bestimmt sie allein das Ziel, für das sich die Verteidigung einsetzen muss. Will der Beschuldigte auch nach umfassender Beratung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, hat die Verteidigung dies zu beantragen, und zwar auch dann, wenn sie von der Unschuld ihres Mandanten überzeugt ist. Das wäre zwar nicht im Interesse einer kontradiktorischen Wahrheitsfindung, aber eben im Interesse des Beschuldigten und – in diesem Fall ganz nebenbei – auch im Interesse der Opfer. Zudem würde die Staatsanwaltschaft bestätigt und der Richter faktisch von der mühseligen Wahrheitsfindung entbunden, denn über sein Urteil wird sich selbst dann niemand beklagen können, wenn es ein Fehlurteil ist.

Sind die Opferinteressen allenfalls hinter dem oben ausgeklammerten Teil des Gesetzestexts verborgen, «in den Schranken von Gesetz und Standesregeln»? Dazu müsste man wissen, welches Gesetz gemeint ist. Die StPO kann es nicht sein, sie definiert keine Schranken. Aktive Pflichten der Verteidigung finden sich im Berufsrecht (vgl. Art. 12 f. BGFA), das aber auch wenig Konkretes hergibt. Unstrittig wird letztlich wohl nur sein, dass die Verteidigung bewusst und widerrechtlich keine Strafnormen verletzen darf. Von vornherein als Schranken abschreiben müssen wir die Standesregeln, die als Verbandsrecht nicht für alle Strafverteidiger verbindlich sind und zudem jederzeit geändert werden können, und zwar ausgerechnet durch diejenigen, die sie beschränken könnten. Verbandsrecht kann nicht durch gesetzlichen Verweis zum Gesetz gemacht werden.

Fazit: Strafverteidiger haben sich ausschliesslich für die von ihren Mandanten zu bestimmenden Interessen einzusetzen. Alles andere ist gesetzes- und systemwidrig, indem es den vorgesehenen dialektischen Wahrheitsfindungsprozess korrumpiert. Strafrecht soll Täter bestrafen, und zwar nicht für die Opfer, sondern für die Gesellschaft und den Rechtsfrieden. Um die Interessen der Opfer kümmern sich deren Beistände, und zwar ohne auch nur an die Beschuldigten, die sich vielleicht gar nicht schuldig gemacht haben, zu denken.