Praxiswissen

Rechtsanwälte als «unfaire» Belastungszeugen im Strafverfahren

Thomas Sprenger – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Sollen Anwälte in einem formellen Verfahren als Zeugen über Informationen Auskunft erteilen, die dem Anwaltsgeheimnis unterliegen, müssen sie sich vorher von der Schweigepflicht entbinden lassen. Andernfalls verstossen sie gegen Berufsrecht (Art. 13 BGFA) und machen sich strafbar (Art. 321 StGB).

Als Zeugen dürfen Anwälte nur dann geheimnisgeschützte Informationen preisgeben, wenn dies im Interesse ihres Klienten liegt. Bestehen Zweifel darüber, wird sich ein pflichtbewusster Anwalt deshalb gar nicht vom Berufsgeheimnis entbinden lassen und unter Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 171 StPO, Art. 166 Abs. 1 lit. b ZPO etc.) jede Aussage verweigern. Denkbar ist auch, sich nur mit Bezug auf diejenigen Fragen entbinden zu lassen, deren Beantwortung dem Klienten offensichtlich keine Nachteile bereiten kann, und nur zu diesen Fragen Auskunft zu erteilen.

Selbst ein (teilweise oder vollständig) vom Berufsgeheimnis entbundener Anwalt ist aber nicht zur Aussage verpflichtet (Art. 13 Abs. 1 BGFA). Dies muss insbesondere gelten, wenn eine konkrete Antwort den Interessen der Klientschaft schaden könnte. Auch nach erfolgter Entbindung darf er also keine für die Klientschaft nachteiligen Aussagen tätigen. Ein Teil der Lehre geht noch weiter und gesteht Anwälten in dieser Konstellation ein Recht auf Lüge zu. Wäre die für die Klientschaft nachteilige Wahrheit offensichtlich, wenn der Anwalt auf eine Frage bloss schweigt («Ist Ihr Klient im Ausland vorbestraft? »), darf er nach dieser Auffassung sogar lügen.

Die beschriebenen Rahmenbedingungen zeigen, dass Anwälte keine objektiven Zeugen sind bzw. sein dürfen, sobald sie zu Belangen befragt werden, die dem Anwaltsgeheimnis unterliegen. Obschon nach Art. 307 StGB zur Wahrheit verpflichtet, ist ihr Zeugnis notwendigerweise interessengefärbt, möglicherweise sogar unvollständig oder (punktuell) unrichtig.

Werden Anwälte in einem Strafverfahren aufgefordert, als Belastungszeugen auszusagen, führt die beschriebene Dynamik fast notwendigerweise zu stossenden Ergebnissen. Ein Zeugnis, das von Gesetzes wegen interessengefärbt sein muss und zum Schutze des Anwaltsgeheimnisses (trotz Wahrheitspflicht) auch unvollständig oder unwahr sein darf, ist nicht objektiv. Es kann auch durch Ergänzungsfragen nicht wirksam hinterfragt werden, da selbst entlastende Informationen vom Zeugen verschwiegen werden müssen, wenn sie den Interessen des eigenen Klienten widersprechen würden.

Damit wird dieses Zeugnis den Grundanforderungen nicht gerecht, welche EMRK und Verfassung an die Verwertbarkeit von belastenden Zeugenaussagen stellen. In Strafverfahren sollte deshalb darauf verzichtet werden, Anwälte als Zeugen über berufsgeheimnisgeschützte Informationen zu befragen.