Praxiswissen

Quid agis, Unmittelbarkeitsprinzip?   

Caroline Engel – Rechtsanwältin und Fachanwältin SAV Strafrecht

Der Grundsatz der Unmittelbarkeit verlangt, dass das Gericht durch eigene sinnliche Wahrnehmung alle für die Urteilsbildung wesentlichen Fakten möglichst unvermittelt und direkt an der Hauptverhandlung zur Kenntnis nimmt.

Die zivile Strafprozessordnung sieht indessen nur eine beschränkte Unmittelbarkeit des gerichtlichen Hauptverfahrens vor. Entsprechend nimmt das Gericht neue oder nicht ordnungsgemäss erhobene Beweise ab und ergänzt unvollständige Beweise. Ordnungsgemäss erhobene Beweise nimmt das Gericht lediglich nochmals ab, falls die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint. In der Praxis wird die beschränkte Unmittelbarkeit kantonal in unterschiedlichen Formen gelebt.

Im Unterschied zur zivilen Strafprozessordnung schreibt die Militärstrafprozessordnung vor, dass das Gericht seine Überzeugung ausschliesslich aus den anlässlich der Hauptverhandlung zur Kenntnis gebrachten Tatsachen schöpfen muss und bei der Urteilsfällung nur auf die anlässlich der Hauptverhandlung gewonnenen Ergebnisse abstellen darf. Demnach werden die Akten des Vorverfahrens vor der Gerichtsverhandlung nur der Präsidentin oder dem Präsidenten zur Kenntnis gebracht, nicht aber den übrigen vier Richterinnen und Richtern.

Die im militärgerichtlichen Hauptverfahren gelebte Unmittelbarkeit zeigt nicht nur für die Verteidigung den Wert und die Notwendigkeit unmittelbarer Beweisabnahme: Sie stärkt das Verständnis der strafprozessualen Regeln für alle beteiligten Personen. Der Auditor (Strafankläger der Militärjustiz) muss an der Hauptverhandlung immer anwesend sein und seine Position situationsbedingt flexibel vertreten können. Die gleiche Herausforderung gilt für die Verteidigung. Das Gericht gewinnt eine eigene und nicht vorbefasste Vorstellung der zu beurteilenden Tatsachen.

Und wie nimmt die beschuldigte Person das uneingeschränkte Unmittelbarkeitsprinzip wahr? Sie fühlt sich nicht von einer übermächtigen Strafverfolgungsbehörde in der Ausübung ihrer Rechte über Gebühr beeinträchtigt. Sie sieht sich nicht einem Gericht gegenübergestellt, das Akten vor sich hat, deren Stand es dem Gericht erlauben würden, sein Urteil im Schuld- wie im Strafpunkt auch ohne zusätzliche Beweiserhebungen fällen zu können.

Im Sinne der Transparenz und Akzeptanz des Urteils tut die gerichtliche Praxis des zivilen Strafrechts deshalb gut daran, das beschränkte Unmittelbarkeitsprinzip nicht restriktiv zu handhaben.