Praxiswissen

Lockerer Umgang der Behörden mit der Haftanordnung

Thomas Sprenger – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Eine Haftstatistik, die verlässlich darüber Auskunft erteilt, in wie vielen Fällen Untersuchungshaft angeordnet wird und in wie vielen nicht, wird nirgends geführt. Fragt man aber erfahrene Strafverteidiger, ergibt sich ein eindeutiges Bild: Von hundert Haftanträgen werden über neunzig gutgeheissen. Tendenz steigend. Dabei wäre eine Haftanordnung längst nicht in allen Fällen erforderlich.

Als Verteidiger beobachten wir eine Zurückhaltung der Zwangsmassnahmengerichte, Haftanträge selbst bei sehr vager oder nicht existenter Verdachtsgrundlage abzuweisen. Es scheint eine Bereitschaft zu bestehen, zumindest einen ersten Haftantrag auch ohne Vorliegen eines dringenden Tatverdachts gutzuheissen. Mit den übrigen Haftvoraussetzungen sieht es ähnlich aus. Statt eine konkrete Flucht- oder Kollusionsgefahr zu fordern, lassen die Behörden in vielen Fällen ein bloss theoretisches Risiko genügen, um auch die besonderen Haftgründe zu bejahen. Ersatzmassnahmen, die anstelle der Haft angeordnet werden könnten (Kaution, Pass- oder Schriftensperre, Kontaktverbot), werden vorab verworfen und nicht ernsthaft geprüft.

Als Verteidiger fragen wir uns, ob diese Praxis bloss den Zeitgeist in einer Null-Risiko-Gesellschaft widerspiegelt oder ob darin auch eine Sorge der Behörden zum Ausdruck kommt, bei einer Entlassung kritisiert zu werden (von Berufskollegen oder der Presse)? Spielt allenfalls der Gedanke mit, die Staatsanwaltschaft werde doch als staatliches Organ keine unbegründeten Haftanträge stellen? Oder ist es schlichtweg die Macht der Gewohnheit, dass in aller Regel Haft angeordnet wird? Die Frage muss im Raum stehen bleiben. Wir werden nie eine verbindliche Antwort darauf erhalten.

Gleichwohl sind wir alle gehalten, uns gegen diese Entwicklung zur Wehr zu setzen. Durch Haft geraten die Betroffenen von heute auf morgen beruflich, wirtschaftlich und familiär in eine Krisensituation, von der sie sich lange Zeit nicht erholen werden. Haft ist aufgrund der damit verbundenen Nebenfolgen ein krasser und nachhaltiger Eingriff in das Leben der Betroffenen. Das wird oft unterschätzt. Eine derart einschneidende Massnahme kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen zweifelsfrei gegeben sind.

Sämtliche am Haftprozess beteiligten Akteure sind deshalb gefordert, genau hinzusehen und durch eine sorgfältige Prüfung der Haftvoraussetzungen ihren Beitrag zu leisten, dass Untersuchungshaft nur dann angeordnet wird, wenn es zwingend nötig ist. Der Massstab, den man anlegen könnte und sollte, ist lapidar.

 Die Frage lautet: «Würde ich meinen besten Freund bei dieser Aktenlage ebenfalls inhaftieren?» Die konsequente Anwendung dieser simplen Formel könnte dazu beitragen, die Haftfälle in der Schweiz zu reduzieren.