Praxiswissen

Dauerärgernis Einvernahmeprotokoll

Kenad Melunovic – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Erkenntnistheoretisch steht fest, dass die zeitnahe und möglichst unbeeinflusste Aussage zu einem rechtserheblichen Ereignis sowie der Einsatz richtiger Befragungstechniken Fehler beim Abrufen und bei der Wiedergabe von Gedächtnisinhalten vermeiden und eine möglichst «richtige» und «wahrheitsgetreue» Beschreibung des Wahrgenommenen ermöglichen. Der Erstaussage und damit der Erstbefragung kommt daher entscheidende Bedeutung zu.

Die Würdigung dieser und aller weiteren Aussagen obliegt dem urteilenden Richter. Die Möglichkeit, von der originären Aussage in ihrer Gesamtheit unmittelbare Kenntnis zu nehmen, wird dem Gericht jedoch durch die gesetzliche Konzeption der beschränkten Unmittelbarkeit und des Primats der Schriftprotokolle verwehrt. Weshalb protokollieren wir im Jahr 2017 noch wie im Schreibmaschinenzeitalter? Weshalb legen wir unseren Urteilen bewusst Zerrbilder der gedächtnisbasierten Wahrheit(en) zugrunde? Und in wessen Interesse geschieht dies? Schriftprotokolle sind eines modernen, aufgeklärten Strafprozesses nicht würdig.

Videoaufzeichnungen von Einvernahmen und Befragungssituationen lassen den Richter am Reproduktions- und Wiedergabeprozess von Gedächtnisinhalten und damit am Zeitpunkt der Aussageentstehung unmittelbar teilnehmen. Die gesetzliche Grundlage für eine audiovisuelle Aufzeichnung von Aufnahmen besteht in Art. 76 Abs. 4 StPO bereits. Technisch wäre dies heute keine Schwierigkeit mehr und würde auch den übrigen Verfahrensbeteiligten erhebliche Vorteile verschaffen.

Erhöhte Bedeutung erlangt diese Möglichkeit gerade etwa im Hinblick auf das für die beschuldigte Person immer einschneidende Haftverfahren. Würde dem Zwangsmassnahmengericht – gerade bei Sexualdelikten und in «Aussage-gegen-Aussage-Situationen» – jeweils eine Videoaufzeichnung der ersten Einvernahmen vorliegen, würde der Haftrichter über ein wertvolles Instrument verfügen, das ihm ein viel weiteres Blickfeld auf die oft entscheidenden Erstaussagen ermöglichen würde.

Damit könnte der Haftrichter seiner konzeptionellen Rolle als überwachendes Korrektiv zur «übermächtigen» Staatsanwaltschaft im Vorverfahren weitaus gerechter werden. Der Einsatz von Videotechnik, insbesondere im Vorverfahren, erscheint in der heutigen Zeit geradezu systemisch notwendig und im Lichte des in Art. 139 Abs. 1 StPO verankerten Gebots des bestmöglichen Beweismittels im Strafverfahren zwingend. Eine Möglichkeit wäre etwa, den Wortlaut von Art. 142 StPO – de lege ferenda und als lex specialis zu Art. 76 Abs. 4 StPO – wie folgt zu ergänzen: «Art. 142 […] neu 3 Einvernahmen werden zusätzlich zur schriftlichen Protokollierung (Art. 76 Abs. 1) mit Ton und Bild aufgezeichnet. Dies wird den anwesenden Personen bekannt gegeben. Die Aufzeichnung ist in die Akten zu nehmen. Nicht aufgezeichnete Einvernahmen sind nicht verwertbar.»