Praxiswissen

Anspruch auf notwendige Verteidigung im Jugendstrafverfahren  

Caroline Engel – Rechtsanwältin und Fachanwältin SAV Strafrecht

Der Anspruch auf Verteidigung ist auch im Jugendstrafverfahren ein fundamentaler Grundsatz unseres Rechtsstaats. Ein Jugendlicher, der sich mit seiner ersten Einvernahme konfrontiert sieht, ist in einer noch heikleren Lage als ein Erwachsener. Minderjährige, die Kenntnis des Rechts und insbesondere eines Strafverfahrens haben, dürften doch eher die Ausnahme sein. Umso bedauernswerter ist es, dass in der Praxis mit äusserster Zurückhaltung dem Jugendlichen gleich zu Beginn des Verfahrens ein amtlicher Verteidiger beigegeben wird.

Selbstverständlich erfolgt bei jeder ersten Einvernahme eines Jugendlichen – sei dies nun bei der Polizei oder der Jugendanwaltschaft – die Rechtsbelehrung, er könne jederzeit eine Verteidigung nach freier Wahl und auf eigenes Kostenrisiko beiziehen, auch könne er eine amtliche Verteidigung beantragen. Es fragt sich nur, welcher Jugendliche es sich leisten kann, auf eigenes Kostenrisiko einen Wahlverteidiger zu mandatieren. Zudem muss man sich berechtigterweise die Frage stellen, ob einem Jugendlichen tatsächlich anlässlich der Rechtsbelehrung anschaulich und verständlich erklärt wird, welche Gründe eine Verteidigung notwendig machen.

Die JStPO als lex specialis listet (nicht abschliessend) verschiedene Umstände auf, bei denen ein Jugendlicher eine notwendige Verteidigung haben muss. Jene Regelung, bei der die Höhe der Sanktion als Anknüpfungspunkt dient, gelangt bei strafmündigen Jugendlichen unter 15 Jahren systembedingt gar nicht zur Anwendung.

Insbesondere bei diesen Jugendlichen müsste vermehrt die Voraussetzung geprüft werden, ob der Jugendliche in der Lage ist, seine eigenen Verfahrensinteressen ausreichend wahrzunehmen. Die Notwendigkeit einer Verteidigung darf in solchen Fällen nicht einzig bei Vorliegen von augenscheinlich zutage tretendem Unvermögen bejaht werden. Vielmehr ist in solchen Fällen sorgfältig zu prüfen, ob der Jugendliche selber überhaupt die mangelnde Fähigkeit, die Verteidigung selber wahrzunehmen, erkennen kann. Diese Tatsache müsste umso mehr Beachtung finden, weil das Jugendstrafverfahren – anders als es die StPO für Erwachsene vorsieht – jene Fallkonstellationen nicht erfasst, in denen eine Verteidigung zwar nicht notwendig, aber geboten erscheint.

Die Konsequenzen eines Strafverfahrens sind zu einschneidend, als dass der Jugendliche diesbezüglich alleine gelassen werden darf. Eine flexiblere Handhabung der gesetzlichen Möglichkeiten würde letztlich allen dienen, nicht nur den betroffenen Jugendlichen.

1 BGer 6B_655/2016 vom 1.12.2016