Praxiswissen

Fallstricke bei der Sicherstellung der notwendigen Verteidigung

André Kuhn – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Der Zeitpunkt, in dem die notwendige Verteidigung spätestens sichergestellt werden muss, ist in der aktuellen Strafprozessordnung (StPO) widersprüchlich geregelt. So ist die notwendige Verteidigung gemäss Art. 131 Abs. 2 StPO nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, aber vor Eröffnung der Untersuchung zu errichten. Eine Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft ohne Eröffnung eines Strafverfahrens ist jedoch ausgeschlossen. Dieser Widerspruch soll im Rahmen der geplanten StPO-Revision geklärt werden. De lege ferenda ist die notwendige Verteidigung spätestens bei der Eröffnung der Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft sicherzustellen.

Auch mit dem revidierten Art. 131 StPO verbleiben jedoch Fallstricke, denn alleine mit Blick auf den geplanten Wortlaut von Art. 131 Abs. 2 StPO könnte man zum Schluss gelangen, es sei einzig auf die formelle Eröffnung der Untersuchung der Staatsanwaltschaft abzustellen. Wie das Bundesgericht im Urteil 6B_990/2017 vom 18. April 2018 in Erwägung 2.3.2 erneut betont, ist jedoch nicht die formelle Eröffnung der Strafuntersuchung entscheidend, sondern der Zeitpunkt, in welchem eine solche hätte eröffnet werden müssen (sog. materieller Eröffnungsbegriff).

In der Praxis geht der formellen Eröffnung des Untersuchungsverfahrens häufig eine erste polizeiliche Einvernahme voraus. Oft versucht die Polizei dabei, der beschuldigten Person entscheidende Aussagen zu entlocken, bevor dieser eine Verteidigung zur Seite steht. Nach dem Gesagten ist die notwendige Verteidigung jedoch unter Umständen bereits vor der ersten polizeilichen Einvernahme sicherzustellen. Dies, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits ein hinreichender Tatverdacht für die Eröffnung einer Untersuchung vorliegt und erkennbar ist, dass ein Fall von notwendiger Verteidigung vorliegt. Daran ändert nichts, dass der Gesetzgeber darauf verzichtete, die notwendige Verteidigung bereits im polizeilichen Ermittlungsverfahren i.S.v. Art. 306 StPO vorzusehen.

Ob die Missachtung der Sicherstellung der notwendigen Verteidigung ein absolutes oder relatives Verwertungsverbot nach sich zieht, lässt das Bundesgericht auch im zitierten Urteil (E. 2.4.4) offen. Mit der geplanten StPO-Revision soll diese Kontroverse abschliessend geklärt werden: Beweise, die erhoben werden, bevor eine erkennbare notwendige Verteidigung sichergestellt ist, sollen nun auch gemäss deutschem Gesetzestext (absolut) unverwertbar sein, sofern die beschuldigte Person nicht auf die Wiederholung der Beweiserhebung verzichtet. Die Wiederholung sollte von der Verteidigung formell beantragt werden, um sich nicht dem Vorwurf eines impliziten Verzichts auszusetzen.