Praxiswissen

Als Jurist kann man vieles werden – warum Strafverteidiger? 

Eveline Roos – Rechtsanwältin und Fachanwältin SAV Strafrecht

«Warum tust du dir das an?» Paula schaute mich eindringlich und mit besorgter Miene an. «Was soll ich sagen», antwortete ich müde. Die Arbeit als Strafverteidiger ist ein Knochenjob. «Also warum denn», fragte sie erneut. Ich hatte gerade einen anstrengenden Tag am Gericht hinter mir und war eigentlich nicht in Laune, mich dieser Diskussion zu stellen. Schon gar nicht, wenn es darum ging, meine Arbeit in Frage zu stellen, die ich eigentlich sehr liebte.

Aber ja, sie hatte ja recht. Weshalb tu ich mir das an? Die Verhandlung war einmal mehr eine Farce. Meine Beweisanträge wurden vom Richter mit lapidarer Begründung abgewiesen, und die Befragung meines Klienten dauerte nicht einmal zehn Minuten. Weshalb wir trotzdem immer noch den Aufwand einer mündlichen Hauptverhandlung betreiben, ist mir bei dieser Ausgangslage je länger, desto mehr ein Rätsel.

Paula schaute mich immer noch erwartungsvoll an. Ok. Also warum mache ich das? Ich sagte: «Weisst du, es ist so: Bei allem Frust darf man trotzdem nie aufgeben, und genau das macht die Arbeit eines Strafverteidigers aus. Strafverteidigung verlangt in erster Linie Überzeugungsarbeit. Man ist täglichen Widerständen und Kämpfen ausgesetzt, gegen die man antreten muss. Nicht zuletzt mit Bezug auf den eigenen Klienten. Manchmal bist du für ihn die letzte Hoffnung. Er befindet sich in einer verzweifelten Lage, klammert sich an dich und will, dass du ihm glaubst. Du musst ihm das Gefühl geben, ihn zu verstehen. Die richtigen Worte zu finden, ist nicht immer einfach. Deshalb musst du versuchen, deinen Klienten und sein Handeln zu begreifen. Es geht nicht einmal primär um harte Fakten und Beweise, sondern um Gefühle, Atmosphäre und Stimmungen. Du musst dich in die Lage des Klienten hineinversetzen können, in seinen Kopf kriechen, um herauszufinden, wie es dazu kam, dass er zu einer bestimmten Tat getrieben wurde. Dies aber immer nur soweit, dass du da selber wieder hinauskommst. Das ist ein Kantengang. Dabei kann dir niemand helfen, auch dein Klient hat häufig keine Ahnung, was ihn zu seinem Handeln getrieben hat. Ein unbedeutendes Ereignis kann einen Trigger treffen, der dann eine ganze Kette von weiteren Handlungen in Gang setzt. Wenn du das einmal begriffen hast, musst du versuchen, es in Worte zu fassen, so, dass es nicht nur dein Klient, sondern auch der Richter versteht. Das Ziel ist, dass die Leute danach sagen, ok, was dein Klient getan hat, ist wirklich schlimm, aber ich kann jetzt ansatzweise verstehen, warum er es getan hat.»

Paula schaute mich mit grossen Augen an. «Also bist du auch ein Therapeut?», fragte sie. «Nein», sagte ich, «ich bin Strafverteidiger und ich liebe diese Arbeit!»