Praxiswissen

Die Schweiz, das Haftrecht und die EMRK

Alain Joset – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Die vom Europarat ausgearbeitete Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) ist für die Schweiz am 28. November 1974 in Kraft getreten. Art. 5 EMRK gewährleistet das Recht auf Freiheit und Sicherheit und stipuliert zentrale rechtsstaatliche Grundsätze im Zusammenhang mit der richterlichen Kontrolle eines staatlichen Freiheitsentzugs. Die Schweiz wäre eigentlich verpflichtet, diese völkerrechtlichen (Verfahrens-) Garantien zum Schutz der Freiheit zeitnah umzusetzen – seit der Inkraftsetzung von Art. 5 EMRK sind mittlerweile immerhin mehr als 45 Jahre vergangen.

Aber die Schweiz tut sich auch nach mehr als vier Jahrzehnten offensichtlich schwer mit der Implementierung verfahrensrechtlicher Mindestgarantien im Haftrecht. So waren mehrere Verfahren und auch Verurteilungen der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) notwendig, bis die Kantone eine unabhängige richterliche Kontrolle der Untersuchungshaft nach Art. 5 Ziff. 3 EMRK (Haftrichter) gesetzlich installierten.1 Darüber hinaus fehlen in der Schweiz bis heute EMRK-konforme Verfahrensstrukturen, um die Garantie auf eine unverzügliche richterliche Haftprüfung (Art. 5 Ziff. 4 EMRK) sicherzustellen, obschon die Schweiz vom EGMR bereits im Oktober 1986 und danach in weiteren Urteilen für die fehlende Möglichkeit eines raschen Zugangs eines Verhafteten zu einem Gericht gerügt wurde.2 Mit Urteil vom 10. Mai 2016 gelangte der EGMR zur Auffassung, dass eine Verfahrensdauer vom Haftentlassungsgesuch bis zum ersten richterlichen Entscheid von 11 Monaten mit der EMRK nicht zu vereinbaren sei.3 Schliesslich wurde die Schweiz mit Urteil des EGMR i.S. Borer gegen Schweiz vom 10. Juni 2010 vor bald 10 Jahren vom EGMR gerügt, weil sie über keine genügende gesetzliche Grundlage zur Anordnung von «vollzugsrechtlicher Sicherheitshaft » verfüge.4 In einem aktuellen Urteil vom 3. Dezember 2019 hat der EGMR erneut feststellen müssen, dass das Schweizer Recht keine gesetzliche Grundlage für Freiheitsentzug im Sinne «vollzugsrechtlicher Sicherheitshaft » kenne.5 Mit diesem neusten Urteil ist die zweifelhafte Argumentation des Bundesgerichts, die Rechtsprechung des EGMR im Fall Borer sei für die Schweizerische Strafprozessordnung nicht relevant,6 definitiv gescheitert. Der EGMR hatte bereits im Fall Borer c. Schweiz unmissverständlich entschieden, dass «vollzugsrechtliche Sicherheitshaft » über eine spezifische gesetzliche Grundlage verfügen müsse und Gesetzesanalogien (in vorliegender Konstellation zur strafprozessualen Haft), wie sie das Bundesgericht im Bereich der «vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft » konstruiert, im sensiblen Bereich staatlichen Freiheitsentzugs untolerierbar seien.

Es ist völlig unverständlich, weshalb sich ein wohlhabendes Land wie die Schweiz, das sich gern als Vorzeigerechtsstaat präsentiert, während Jahrzehnten derart schwertut, im Rahmen der Minimalgarantien von Art. 5 EMRK korrekte und rechtsstaatlich legitimierte verfahrensrechtliche Garantien zu schaffen. Vielleicht liegt der Grund für die jahrelangen Versäumnisse und die stiefmütterliche Behandlung darin, dass «vollzugsrechtliche Sicherheitshaft» – im Gegensatz zu Untersuchungshaft – nicht jeden, sondern nur die «bösen» rechtskräftig verurteilten Straftäter treffen kann. Gerade in Zeiten, in denen von verschiedenster Seite (noch) mehr Punitivität gefordert wird und in welchen die behördliche Entlassungspraxis immer restriktiver wird, sollten im Bereich des staatlichen Freiheitsentzugs zum Schutz der Betroffenen endlich wenigstens EMRK-konforme und verlässliche verfahrensrechtliche Strukturen geschaffen werden. Vielleicht gelingt dies ja im Rahmen der hängigen Revision der Schweizerischen Strafprozessordnung.

1 Vgl. Urteil 7710/76 des EGMR Schiesser c. Schweiz vom 4.12.1979; Urteil 12794/87 des EGMR Huber c. Schweiz vom 23.10.1990.
2 Vgl. Urteil 9862/82 des EGMR Sanchez-Reisse c. Schweiz vom 21.10.1986; Urteil 81/1996/700/892 des EGMR R.M.D. c. Schweiz vom 26.9.1997; Urteil 28256/95 des EGMR M.B. c. Schweiz vom 30.10.2000; Urteil 27426/95 des EGMR G.B. c. Schweiz vom 30.11.2000.
3 Urteil 52089/09 des EGMR Derungs c. Schweiz vom 10.5.2016.
4 Vgl. Urteil 22493/06 des EGMR Borer c. Schweiz vom 10.6.2010.
5 Urteil 72939/16 des EGMR I.L. c. Schweiz vom 3.12.2019, nicht rechtskräftig.
6 Vgl. z.B. Urteil BGer 1B_41/2019 vom 19.2.2019, E. 2.3.