Praxiswissen

Anklagegrundsatz

Christian von Wartburg – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Die mündliche Begründung der zweiten Instanz bei der Urteilseröffnung irritierte den Verteidiger. Der Gerichtspräsident hatte erläutert, dass keine Rede von einer Verletzung des Anklagegrundsatzes sein könne und dass der Beschuldigte, entgegen den Ausführungen seines Verteidigers, aufgrund der Sachverhaltsschilderung in der Anklage genau gewusst habe, was ihm vorgeworfen werde.

Der begründete Entscheid der Oberinstanz trifft ein. Wie meistens kurz vor den Ferien. Die 30 Tage für den Gang ans Bundesgericht laufen, kein rettender Fristenstillstand in Sicht. Widerwillig beugt sich der Verteidiger über die schriftliche Urteilsbegründung. Es ist später Nachmittag, die Konzentration leidet. Die Arbeit an den materiellen Rügen der Beschwerde in Strafsachen ist wie immer zeitaufwendig. Spürbar und präsent ist zudem die Angst vor der Erwägung des Bundesgerichts, der Beschwerdeführer äussere nur unzulässige appellatorische Kritik. Das eigenartige Gefühl bei der Urteilseröffnung, nicht einmal im Ansatz Gehör gefunden zu haben, kommt wieder hoch.

Der Verteidiger beugt sich noch einmal, Punkt für Punkt über das ausführlich begründete Urteil. Bei der Lektüre der Erwägungen plötzlich ein Innehalten. In der Urteilsbegründung wird eine dem Verteidiger völlig unbekannte längere Ziffer 3 der Anklageergänzung zitiert. Hektisches Blättern in den Akten, wo ist diese Anklageergänzung, diese Ziffer 3 war da garantiert nicht drin, oder wurde etwas übersehen? Die Anklageergänzung ist gefunden. Keine Ziffer 3! Der von der zweiten Instanz als angeblich angeklagt wiedergegebene Text, auf welchen sie ihren Schuldspruch basierte, entspricht nicht dem tatsächlichen Text der Anklageergänzung. Langsames Ein und Ausatmen. Während das Adrenalin allmählich aus den Gliedern fährt, macht sich auch Erleichterung breit, Erleichterung darüber, diese doch sehr aussergewöhnliche Veränderung der Anklage gerade noch rechtzeitig erkannt zu haben.

14 Monate später: Das Bundesgericht fällt sein Urteil (6B_719/2017 vom 10. September 2018). Die Beschwerde wird gutgeheissen und es wird eine Verletzung des Anklagegrundsatzes festgestellt. Die Sache wird zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Der Inhalt der «tatsächlichen Anklage» wird als «völlig ungenügend» bezeichnet. Eine Verurteilung habe bei Nachachtung des Anklagegrundsatzes «von vornherein » nicht erfolgen können.

Es stellen sich neue Fragen: Warum hat das Bundesgericht den Fall nicht gestützt auf Art. 107 Abs. 2 BGG direkt an die erste Instanz zurückgewiesen? Tatsache ist doch, dass gemäss Bundesgericht bereits die erste Instanz den Anklagegrundsatz verletzt hatte. Gemäss Art. 340 Abs. 1 lit. b StPO kann zudem eine Anklage, sobald im Verfahren allfällige Vorfragen behandelt wurden, nicht mehr zurückgezogen und auch nicht mehr geändert werden. Vorbehalten bleibt somit nur noch eine Änderung gestützt auf Art. 333 StPO. Ein Fall, in welchem der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt – wie Art. 333 StPO voraussetzt – einen anderen Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht, liegt aber klarerweise nicht vor. Vielmehr liegt eine völlig ungenügende Anklageschrift vor, und sowohl die Vorinstanz wie auch die erste Instanz haben nicht nur Art. 9 StPO, sondern auch den Grundsatz der Immutabilität (Art. 350 Abs. 1 StPO) verletzt.

Kann die aktuelle Verfahrensleitung nun über Art. 333 StPO diesen Grundsatz aushebeln und sich von der Staatsanwaltschaft einzig für die zweite Instanz eine neue Anklage schneidern lassen? Oder darf sich ein Beschuldigter darauf verlassen, dass der einmal angeklagte Sachverhalt nach Klärung der Vorfragen Bestand hat und nicht hinsichtlich des Anklagevorwurfs immer wieder erweitert bzw. geändert wird? Unveränderlich bleibt jedenfalls zumindest die Überzeugung des Verteidigers, dass die Verurteilung seines Mandanten zu Unrecht erfolgt ist! À suivre …