Praxiswissen

Keine Fairness in Verfahren ohne doppelten Instanzenzug

Amr Abdelaziz – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Damit hatte kaum jemand gerechnet: Das Obergericht Zürich hob am 25. Januar 2024 den Schuldspruch gegen Pierin Vincenz auf, ohne den Fall in der Sache zu beurteilen. Einem frankophonen Mitbeschuldigten von Herrn Vincenz war die Anklage nicht übersetzt worden. Zudem sei die 356-seitige Anklageschrift derart unübersichtlich, dass sie den gesetzlichen Anforderungen nicht genüge.

Durch eine Medienmitteilung der Staatsanwaltschaft wurde im Nachhinein noch bekannt, dass die Staatsanwaltschaft für die Anklageprüfung externe Gutachter beigezogen hatte, deren Identität den Parteien aber nie offengelegt wurde. Dass die Berufungsinstanz einen Fall ohne inhaltliche Prüfung an die Vorinstanz oder gar an die Staatsanwaltschaft zurückweist, kommt selten vor. Laut Artikel 409 Absatz 1 StPO soll dies dann geschehen, wenn «das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel auf[weist], die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können». Die Idee dahinter: Fehler in der Sachverhaltsfeststellung und in der Rechtsanwendung sollen grundsätzlich im Berufungsverfahren korrigiert werden, da dies ja gerade der Sinn und Zweck eines doppelten Instanzenzugs ist. Wenn das erstinstanzliche Verfahren aber an irreparablen Mängeln leidet, ist die Sache an den Absender zu retournieren, da den Parteien sonst faktisch eine Gerichtsinstanz verlorenginge.

Ob im konkreten Fall von Pierin Vincenz und Co. die Rückweisung zu Recht erfolgt ist, wird allenfalls das Bundesgericht entscheiden, sofern es auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft eintritt. Generell ist aber zu begrüssen, dass die Berufungsgerichte Artikel 409 Absatz 1 StPO konsequent anwenden und mit schweren Mängeln behaftete Entscheide zurückweisen. Strafverfahren sind nämlich im Kern dazu da, begangenes Unrecht sorgfältig aufzuarbeiten und auf diese Weise den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Dementsprechend sind die Erwartungen der Rechtsunterworfenen an die Fairness der Strafverfahren hoch.

In Fällen, in denen grundlegendste Anforderungen an die Verfahrensfairness verletzt werden, ist eine Rückweisung in der Regel im Interesse der betroffenen Partei und daher angezeigt. Ein Strafurteil, das ohne Anhörung einer Prozesspartei ergeht, erfüllt die minimalen Anforderungen an ein faires Urteil nicht.

Wenn sich in einem solchen Fall die in ihren Rechten verletzte Partei für eine Rückweisung ausspricht oder diese beantragt, sollte die Rückweisung erfolgen. Andernfalls wäre die betroffene Partei faktisch mit einem Instanzenverlust konfrontiert. Über den Einzelfall hinaus bestünde zudem die Gefahr, dass sich gravierende Verfahrensfehler in erstinstanzlichen Verfahren häufen und das Prinzip der «double instance» im Strafrecht ausgehebelt wird.