Praxiswissen

Lügen ist nie eine gute Strategie

Andrea Taormina – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Am 1. Juli ist das neue Sexualstrafrecht in Kraft getreten. Wird es für Sie als Anwalt schwieriger, Beschuldigte zu verteidigen?

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen glauben das. Ich finde, das wird überbewertet. Es war ja schon bisher sehr schwierig. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass das nun eingeführte Konsensprinzip richtig ist: Wo Sex nicht einvernehmlich stattfindet, soll er strafbar sein – egal, ob sich das Opfer wehrt oder nicht. Die wirklichen Probleme liegen im Strafprozess ohnehin anderswo.

Wo sonst?

Es geht immer um die Frage der Beweiswürdigung. Das ist die Achillesferse des Strafprozesses. Bei einem Delikt, bei dem nur Opfer und beschuldigte Person anwesend sind, ist die Beweiswürdigung aber besonders schwierig. Der Staat muss in Zukunft beweisen können, dass es zu einem «Nein» gekommen ist – dass der Sex also nicht einvernehmlich war. Der Unterschied zum früheren Recht ist für mich gar nicht so gross.

Das heisst, die Spiesse von Strafverfolgung und Verteidigung bleiben gleich lang wie vorher.

Es kommt darauf an, wie die Gerichte auf den neuen Straftatbestand reagieren und wie sie ihre Aufgabe verstehen. Wenn das «Nein» nicht nachgewiesen werden kann, müsste die beschuldigte Person nach dem Prinzip «in dubio pro reo» (im Zweifel für den Angeklagten) eigentlich weiterhin freigesprochen werden. Dann würde sich nicht viel ändern.

Die Hoffnung ist allerdings, dass es zu mehr Verurteilungen und in der Folge zu einer abschreckenden Wirkung kommt.

Tatsächlich – und deshalb werden die Gerichte unter grossen Druck kommen. Die Frage ist, wie sie darauf reagieren. Es wäre allerdings ein grosser Irrtum, anzunehmen, dass es wegen einer strengeren Strafnorm und einer strengeren Praxis schliesslich auch zu weniger Sexualdelikten kommt. Denn es gibt keine empirischen Erkenntnisse, wonach ein hartes Strafrecht zu weniger Delinquenz führt.

Sie sind auch als Pikettanwalt tätig. Also als Strafverteidiger, der gerufen wird, wenn jemand beschuldigt wird und keinen eigenen Anwalt hat. Kommt es häufig vor, dass Sie gerufen werden, weil jemand wegen eines Sexualdeliktes beschuldigt wird?

Ja – und nicht nur, wenn ich als Pikettanwalt tätig bin.

Und was geschieht dann?

Die beschuldigte Person wird von der Polizei abgeholt, in der Regel am Morgen um sechs Uhr. Parallel dazu wird meistens eine Hausdurchsuchung durchgeführt, und es werden das Handy und andere Datenträger sichergestellt. Dann wird die beschuldigte Person befragt.

Was ist Ihre Aufgabe?

Ich spreche mit der beschuldigten Person und erkläre ihr den Ablauf. Ich bereite mit ihr die Einvernahme vor, wobei dafür oft nur wenig Zeit bleibt. Und häufig sind die Personen völlig durch den Wind – und dies nicht nur bei Sexualdelikten.

Was besprechen Sie?

Es geht vor allem um die Frage, ob die beschuldigte Person die Aussage verweigern soll.

Und was empfehlen Sie?

Es kommt sehr auf das Delikt an. Bei Sexualdelikten rate ich häufig, auszusagen. Bei anderen Delikten gibt es eine Faustregel: Wenn durch eine Aussage die Untersuchungshaft vermieden werden kann, lohnt sich dies. Wenn die U-Haft unvermeidlich erscheint oder aber überhaupt nicht infrage kommt, rate ich meistens, die Aussage zu verweigern.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Ich werde beschuldigt, einer Frau die Handtasche entrissen zu haben. Was dann?

Weil Sie Schweizer sind, besteht eine geringe Fluchtgefahr, aber es besteht ein gewisses Risiko, dass Sie wegen Verdunkelungsgefahr in U-Haft genommen werden. Nun kommt es darauf an, was Sie mir über den Vorfall erzählen.

Nehmen wir an, ich würde Ihnen sagen: Ja, der Vorwurf trifft zu, aber das wird mir niemand nachweisen können. Soll ich lügen?

Nein, ich würde Ihnen empfehlen, die Aussage zu verweigern. Meine Erfahrung ist: Lügen ist nie eine gute Strategie. Ich rate auch nicht dazu.

Weshalb nicht abstreiten?

Es gibt in aller Regel einen Grund, weshalb die Polizei auf Sie gekommen ist, sonst sässen Sie nicht auf dem Posten. Und Sie wissen nicht, was die Polizei im Laufe des Verfahrens an Indizien und Beweisen noch finden wird. Genau das müssten Sie antizipieren, um nachhaltig lügen zu können. Denn wenn Sie eine Geschichte erzählen, die hinterher nicht mehr passt, verstricken Sie sich in Widersprüche. Dann stehen Sie schlechter da, als wenn Sie die Aussage einfach verweigert hätten.

Darf ich die Aussage verweigern, auch wenn mich die Polizei zum ersten Fall einvernimmt?

Ja.

Wäre es im Sinne der Wahrheitsfindung aber nicht besser, die Polizei könnte die Beschuldigten befragen, bevor Sie als Strafverteidiger das Aussageverhalten mit Ihrer Strategie beeinflussen?

Nein. Denn erstens gibt es keine empirischen Belege dafür, dass der Ermittlungserfolg ohne Anwalt der ersten Stunde grösser ist. Ich erlebe in der Praxis häufig sogar das Gegenteil. Und zweitens muss man mit dem Begriff «Wahrheit» vorsichtig sein.

Weshalb?

Wir wissen nicht, was passiert ist, was also die Wahrheit ist – und höchstwahrscheinlich lässt es sich auch nicht herausfinden. Es ist das uralte Problem der Strafjustiz, dass sie urteilen muss, ohne dass sie wirklich weiss, was sich ereignet hat. Das Strafverfahren ist im Grunde nichts anderes als ein Regelwerk, um möglichst nahe an eine sogenannte Wahrheit heranzukommen. Aber letztlich bleibt es eine Annäherung.

Wenn ein Mann tot am Boden liegt und daneben ein anderer Mann mit einem rauchenden Revolver steht, ist die Wahrheit ziemlich offensichtlich.

Aber diese Tat hat eine Vorgeschichte. Vielleicht wurde der eine von dem anderen bedroht, oder er hat ihm etwas angetan. Vielleicht geht es um Geld oder um komplizierte berufliche Dinge. Es steckt hinter jeder Tat eine ganze Geschichte, die für die Beurteilung wichtig ist. Wie es wirklich dazu gekommen ist, weiss aber letztlich niemand – und selbst die beiden haben es vermutlich unterschiedlich erlebt. Die Wahrheit ist deshalb in der Strafjustiz nicht mehr als ein theoretisches Gebilde.

Aber mit Ihrem taktischen Vorgehen als Vertreter des Beschuldigten nehmen Sie Einfluss, so dass diese Annäherung an die überprüfbare Wahrheit erschwert wird.

Das muss nicht automatisch so sein, aber Sie haben recht: Das Strafverfahren beinhaltet auch Regeln zum Schutz des Beschuldigten. Die Staatsanwaltschaft muss ihren Vorwurf so beweisen können, dass alle Zweifel ausgeräumt sind. Das ist auch richtig so. Die Annäherung an die Wahrheit ist aber nicht das einzige Ziel. Sonst wären letztlich alle Mittel erlaubt, auch Folter. Ich glaube allerdings, dass viele Leute falsche Vorstellungen von Strafverteidigung haben.

Wie meinen Sie das?

Es geht in der täglichen Arbeit des Strafverteidigers selten darum, Täter von schweren Gewalt- und Sexualdelikten zu verteidigen. Häufig habe ich es in meiner Praxis mit ziemlich unspektakulärer Alltagskriminalität zu tun. Also beispielsweise mit Wirtschaftskriminalität, mit Strassenverkehrsdelikten oder mit Delikten aus dem Verwaltungsstrafrecht. Vielfach steht fest, wer der Verursacher ist.

Ist das nicht beschönigend?

Nein. Bankangestellte oder Ärzte beispielsweise landen extrem schnell in einem Strafverfahren, auch wenn sie keinerlei kriminelle Absicht haben. Jeder Compliance-Mitarbeiter riskiert eine Anklage wegen Geldwäscherei oder Meldepflichtverletzungen. Oft ist in solchen Fällen überhaupt nicht klar, wem welcher Vorwurf gemacht werden kann. Diese Fälle sind zwar nicht spektakulär, aber gar nicht so selten.

Wie oft kommt es vor, dass Personen zu Unrecht beschuldigt werden?

Gerade bei Trennungen und Scheidungen ist das häufig der Fall. Ex-Partner werden wegen Sexualdelikten oder häuslicher Gewalt angezeigt, obwohl sie nichts getan haben. Zum Beispiel weil sich ein Ex-Partner davon einen Vorteil erhofft. Aber es geschieht nicht nur dort. Es kommt auch im Wirtschaftsleben vor. Angestellte werden zum Beispiel plötzlich Teil eines Verfahrens, weil sie eine Urkundenfälschung begangen haben sollen. Dabei haben sie ohne böse Absicht ein Formular ausgefüllt.

Wie gross ist das Risiko eines Fehlurteils?

Ein Fehlurteil ist ein reales Risiko, und es kann jeden treffen. Das Strafgesetzbuch selbst anerkennt, dass die Gefahr gross ist: Falsche Anschuldigung wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft. Damit drückt der Gesetzgeber aus, welche Bedeutung er dem Problem zumisst. Doch in der Realität wird es vernachlässigt.

Ist dieses Risiko wirklich so gross? Sie haben vorhin selbst auf den Grundsatz «in dubio pro reo» verwiesen.

Das ist richtig. Aber das bedeutet leider nicht, dass es automatisch zu einem Freispruch kommt, wenn sich die Aussagen widersprechen. Es gilt bei uns das Prinzip der freien Beweiswürdigung: Der Richter kann selbst entscheiden, dass er trotz der entgegengesetzten Aussage eines Zeugen oder entlastender Indizien keinen Zweifel an der Schuld einer beschuldigten Person hat. Und dann gilt «in dubio pro reo» nicht. Es kann also jeden treffen.

Und wie oft kommt es dazu?

Das weiss niemand, weil die Schweiz in diesem Bereich ein Entwicklungsland ist. In vielen anderen Ländern gibt es dazu Untersuchungen. Eine Studie aus den USA zeigt beispielsweise, dass das Risiko einer Verurteilung am Montag grösser ist als an anderen Tagen. Es zeigt, dass im Strafprozess völlig sachfremde Faktoren eine grosse Rolle spielen. Niemand weiss, ob das bei uns nicht auch so ist. Aber das Problem wird zu wenig ernst genommen.

Was streben Sie selber im Strafverfahren an – eine möglichst tiefe oder eine möglichst gerechte Strafe?

Der Verteidiger dient allein den Interessen der beschuldigten Person. Das schreibt das Gesetz klipp und klar vor. Und das Bundesgericht sagt, was damit gemeint ist: eine möglichst tiefe Strafe oder ein Freispruch.

Und dafür tun Sie alles, was erlaubt ist?

Dafür muss ich alles tun, was erlaubt ist. So lautet der gesetzliche Auftrag.

Sind Sie nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Strafverteidiger immer noch schockiert über die menschlichen Abgründe?

Ja, natürlich. Wenn ich es mit einem Gewaltdelikt zu tun habe, macht mir das auch heute noch zu schaffen.

Es gibt Strafverteidiger, die sagen, sie hätten kein Mitleid mit den Opfern oder ihren Angehörigen.

So funktioniere ich nicht. Natürlich hat man als Mensch Mitleid mit Opfern von Gewalttaten. Ich glaube deshalb auch nicht, dass man solche Aussagen zum Nennwert nehmen darf. Sie verdeutlichen auf pointierte Art, dass der Strafverteidiger immer der Interessenvertreter der beschuldigten Person sein muss. Es wird nämlich oft vergessen, dass diese ebenfalls grosses Leid erlebt.

Können Sie das ausführen?

Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man sich kaum vorstellen, wie brutal ein Strafverfahren ist. Sie geraten in eine unerbittliche Maschinerie – und dies zu einem Zeitpunkt, in dem Sie unschuldig sind. Wer dazu noch in Untersuchungshaft genommen wird, wird komplett aus dem Leben gerissen, verliert den Kontakt zu Familie, zu Freunden, zum gesamten Umfeld. Während Wochen bleibt der Anwalt praktisch die einzige Vertrauensperson. Es drohen der Verlust von Job und Reputation. Die Familie leidet, Beziehungen gehen in die Brüche – und das, obwohl keineswegs feststeht, dass die Vorwürfe zutreffen. Neben Krankheit und dem Verlust nahestehender Personen gehört ein Strafverfahren zu den grössten Belastungen im Leben eines Menschen.

Glauben Sie Ihren Mandanten?

Diese Frage spielt keine grosse Rolle. Natürlich ist es einfacher, wenn eine Mandantin oder ein Mandant die Geschichte so erzählt, wie sie oder er sie tatsächlich erlebt hat. Aber eben: Es wäre trügerisch, sich alleine auf eine Wahrheit zu verlassen. Eine andere Frage ist viel wichtiger.

Welche?

Wie sieht die Beweislage aus – und vor allem, wie kann sich diese verändern? Um diese Frage möglichst präzise beantworten zu können, ist es besser, wenn der Mandant ehrlich zu mir ist.

Spielt es für Ihre Arbeit eine Rolle, ob Ihnen ein Klient sympathisch ist?

Es ist bezeichnend, dass Sie überhaupt auf diese Frage kommen. Einem Arzt würden Sie sie jedenfalls kaum stellen. In einem professionellen Kontext darf das natürlich keine Rolle spielen.

Kommt es vor, dass Sie Mandate ablehnen?

Ja, aber aus anderen Gründen. Zum Beispiel, weil mir die Zeit fehlt oder weil es Interessenkonflikte gibt.

Sie würden aber grundsätzlich alle Personen unabhängig von der Tat vertreten, also auch Nazis oder pädophile Serientäter?

Ja, denn jeder hat Anspruch auf Strafverteidigung. So sieht es unser Rechtssystem vor.

Versuchen Sie, eine beschuldigte Person zu verstehen?

Wenn Sie mit Verstehen Billigen meinen, dann lautet die Antwort Nein. Aber natürlich versuche ich nachzuvollziehen, was mein Mandant in einer bestimmten Situation gedacht oder gefühlt haben könnte. Denn das Strafrecht orientiert sich auch an inneren Tatsachen, also beispielsweise daran, ob jemand eine Tat gewollt hat oder aus welchen Gründen er sie begangen hat. Das kann über eine Zukunft hinter Gittern oder in Freiheit entscheiden. Und oft sind die Unterschiede nur graduell, selbst wenn es um schwere Taten wie Tötungsdelikte geht.

Können Sie dafür ein Beispiel machen?

Stellen Sie sich vor, es passiert ein ärztlicher Behandlungsfehler. Ist ein Medikament fahrlässig nicht verabreicht worden oder eventualvorsätzlich? Diese Unterscheidung ist für das Strafmaß entscheidend, doch eigentlich basiert sie auf einem theoretischen Konstrukt: Wenn der Arzt ein Risiko in Kauf genommen hat, handelte er eventualvorsätzlich. Wenn ihm das Risiko vernachlässigbar erschien, deutet dies auf Fahrlässigkeit hin. Aber lässt sich das nachträglich von außen rekonstruieren? Um den Arzt zu verteidigen, muss ich also seine Sichtweise einnehmen und genau nachvollziehen, weshalb er in diesem Augenblick so gehandelt hat, wie er es getan hat.

Die Strafjustiz ist überlastet. Weshalb?

Es gibt zu viele Verfahren: Bei Offizialdelikten muss die Staatsanwaltschaft von Amts wegen ermitteln. Sie hat kaum Ermessensspielraum, um Verfahren einzustellen, die wenig bringen. Und es gibt zu viele Straftatbestände, vor allem im Verwaltungsstrafrecht.

Staatsanwälte sagen, es gebe eine dritte Ursache: Strafverteidiger würden sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen, um Verfahren in die Länge zu ziehen.

Die Rechte der Beschuldigten sind nicht ohne Grund in der Strafprozessordnung verankert. Damit wird ein Gleichgewicht geschaffen zum immensen Instrumentarium, das der Polizei und der Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen zur Verfügung steht.

Aber ist es richtig, Verfahren so lange zu verzögern, bis sie verjähren?

Ich bin unter Umständen sogar verpflichtet, auf die Verjährung hinzuarbeiten. Denn die Verjährung hat ja einen Sinn: Je länger eine Tat zurückliegt, desto schwieriger ist es, sie nachzuweisen. Erinnerungen werden schwächer oder sie verändern sich. Zudem besteht irgendwann auch kein Strafbedürfnis mehr. Deshalb verlangt die Strafprozessordnung, dass Ermittlungen in einer gewissen Frist abgeschlossen werden müssen. Es widerspräche meiner Aufgabe, wenn ich eine Verurteilung zuließe, nachdem es die Staatsanwaltschaft nicht geschafft hat, ihre Beweise rechtzeitig vorzubringen.

Sie haben gesagt, es existierten zu viele Straftatbestände. Woran liegt das?

Wir neigen dazu, immer und überall Schuldige zu suchen. Wenn irgendwo etwas Schlimmes passiert, wird sofort versucht, das Ereignis jemandem zuzuordnen und ihn dafür verantwortlich zu machen. Doch das funktioniert nicht immer.

Wenn ich Ihnen das Portemonnaie klaue, besteht doch ein Interesse daran, mich dafür verantwortlich zu machen.

Ja, aber geklaute Portemonnaies führen nicht zur Überlastung der Justiz. Das Strafrecht wird heute auch in ganz anderen Bereichen beigezogen. Zum Beispiel im politischen Kontext, bei Umweltkatastrophen oder bei der Unternehmensstrafbarkeit. In solchen Fällen ist es oft kaum möglich, einzelne Personen verantwortlich zu machen. Trotzdem wird es versucht. Das halte ich nicht für sinnvoll. Es gehört doch zum Wirtschaftsleben, dass Firmen in den Konkurs gehen oder sich Investitionen als verfehlt erweisen.

Woher kommt diese Tendenz, überall Schuldige zu suchen?

Es gibt unterschiedliche Gründe. In vielen Fällen geht es aber gar nicht primär um eine strafrechtliche Verurteilung. Das Strafverfahren ist für Geschädigte eine gute Möglichkeit, um an Beweise für spätere Zivilklagen zu kommen. Dort geht es dann um Schadenersatz – also um Geld. Gleichzeitig kann ein laufendes Strafverfahren dazu führen, dass die zivilrechtliche Verjährung unterbrochen wird.

Gibt es auch ein übersteigertes Strafbedürfnis?

Ja, die Gesellschaft erwartet von der Strafjustiz zu viel. Das klassische Ziel des Strafrechts war die Vergeltung. Die Resozialisierung und die Prävention sind moderne Ideen. Vor allem der Präventionsgedanke rückt aber heute stark in den Vordergrund – die Idee also, dass das Strafrecht das Leben sicherer machen kann. Doch hier werden von der Politik und den Medien Erwartungen geweckt, die unerfüllbar sind.

Halten Sie also ein strafrechtliches Hakenkreuz-Verbot, wie es derzeit geplant wird, für sinnlos?

Die rassistische Einstellung in gewissen Köpfen lässt sich durch eine zusätzliche Strafnorm sicher nicht beeinflussen. Der Nutzen ist also fraglich. Gleichzeitig habe ich Verständnis, wenn die Gesellschaft auf diese Weise deutlich machen will, dass sie rassistische Symbole nicht akzeptiert. Denn das Strafrecht ist nicht nur ein juristisches Werkzeug, sondern reflektiert auch einen Wertekatalog.

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet.