Praxiswissen

Kurzer Prozess

Daniel Kaiser – Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht

Die Justiz klagt darüber, dass sie überlastet ist. Rechtsfälle sind zum Massengeschäft geworden. 2023 wurden in der Schweiz 200 028 Administrativmassnahmen gegen Fahrzeuglenker angeordnet, davon 72 098 Führerausweisentzüge.1 Zudem wurden 102 822 Verurteilungen gegen Erwachsene wegen Verbrechen oder Vergehen ausgesprochen.2

Um die enorme Menge an Rechtsfällen bewältigen zu können, stehen das Straf­befehls und das Ordnungs­bussenverfahren zur Ver­fügung. Diesen beiden Verfahrensarten ist gemeinsam, dass sie rasch und ohne Mitwirkung eines Gerichts erledigt werden. Voraussetzung ist, dass der Betroffene damit einverstanden ist. So wird beispielsweise im Grundsatz mit einer Ordnungsbusse bestraft, wer innerorts um maximal 15 km/h zu schnell fährt.3 Ein Strafbefehl kommt in Betracht, wenn eine Busse, eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen oder eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten verhängt wird.4

Dadurch kann das Verfahren abgeschlossen werden, ohne dass die betroffene Person überhaupt angehört wurde. Spätestens dann, wenn ein Beschuldigter eine Einsprache gegen einen Strafbefehl einreicht, muss jedoch gewährleistet werden, dass er seine Rechte wirksam ausüben kann. Damit er den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann, gewährleistet der Anspruch auf rechtliches Gehör diverse Mitwirkungsrechte.

Die zuständige Behörde muss die rechtserheblichen Vorbringen tatsächlich hören, ernsthaft prüfen und bei der Entscheidfindung angemessen berücksichtigen.5 Er muss mit seinen wesentlichen Beweis­anträgen gehört werden.6 Die Behörde ist verpflichtet, ihren Entscheid zu begründen.7 In der Begründung müssen wenigstens kurz die wesentlichen Überlegungen erwähnt werden, von denen sie sich hat leiten lassen und auf die sie ihren Entscheid stützt.8

In der Theorie tönt das aus der Optik der betroffenen Person vielversprechend. In der Praxis wird der Gehörsanspruch jedoch durch den Gesetzgeber und durch die Rechtsprechung erheblich eingeschränkt. Die Behörden können zum Beispiel auf die Abnahme weiterer Beweise verzichten, wenn sie in vorweggenommener (antizipierter) Beweiswürdigung annehmen können, ihre Über­zeugung werde durch weitere Beweiserhebungen nicht ge­ändert.9 Sie müssen sich nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzen und jedes einzelne Vorbrin­gen ausdrücklich widerlegen. Vielmehr können sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken.10

Im Widerstreit dieser Prinzipien darf eine gerechte Beurteilung niemals zugunsten der Pro­zessökonomie auf der Strecke bleiben. Der Betroffene darf niemals zum reinen Verfahrensobjekt degradiert werden. Ge­richte, welche die Vorbringen der Parteien ernsthaft prüfen, halten das Vertrauen in eine unabhängige und faire Justiz aufrecht.

1 Bundesamt für Strassen (Astra), AdmasStatistik 12/2023, Analysejahr 2023, 001, S. 1
(www.astra.admin.ch/astra/de/home/dokumentation/dateninformationsprodukte/statistikadministrativmassnahmen.html, besucht im Dezember 2024).
2 Strafurteilsstatistik (SUS) 2023
(www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaetstrafrecht/strafjustiz/verurteilungenerwachsenen.html, besucht im Dezember 2024).
Diese Statistik bezieht sich auf Vergehen und Verbrechen von StGB, SVG, MStG, BetmG und AIG.
3 Ziff. 303 des Anhangs 1 der Ordnungsbussenverordnung vom 16.1.2019 (OBV), SR 314.11.
4 Art. 352 Abs. 1 und Abs. 2 der Schweizerischen Straf­prozessordnung vom 5.10.2007 (StPO), SR 312.0.
5 BGer 1C_213/2023 vom 26.7.2024, E. 3.1.
6 Vgl. BGer 1C_431/2024 vom 29.7.2024, E. 3.2.
7 BGer 7B_222/2022 vom 9.11.2023, E. 3.3.
8 Vgl. BGer 6B_1164/2023 vom 7.10.2024, E. 3.2.
9 BGer 7B_253/2022 vom 8.2.2024, E. 3.4.3.
10 BGer 1C_213/2023 vom 26.7.2024, E. 3.1.